- Weltkrieg, Erster: Die politische Dimension des Krieges
- Weltkrieg, Erster: Die politische Dimension des KriegesKriegszielpropaganda und RechtfertigungsstrategienDie Sinnlosigkeit des Ersten Weltkriegs wurde durch dessen umfassende Ideologisierung kaschiert und kompensiert. Hierbei war die außenpolitische Kriegszielpolitik eng mit Auseinandersetzungen über die »richtige« Staatsform der Zukunft verwoben. Eine rüde Kriegszielpropaganda stilisierte zudem die eigene Nation und Kriegskoalition zu menschheitlichen Hoffnungsträgern, sie denunzierte den Feind und prägte — teilweise bis heute spürbare — Klischeevorstellungen. Die besonders wirksame alliierte Propaganda wusste vor allem Wilhelm II. als »modernen Attila« zu diffamieren, die deutsche verbiss sich hasserfüllt in den Konkurrenten Großbritannien als »perfides Albion« (hinterlistiges England). Des Weiteren begegnete man mit Hysterie Minderheiten, Sozialisten und Pazifisten, die sich gegen den Krieg sperrten. So wurde in den USA die ohnehin bröckelnde ethnische Identität der Deutschamerikaner zerstört, sahen sich in Frankreich die politischen Querdenker Jean-Louis Malvy und Joseph Caillaux zu Verbannung und Gefängnis verurteilt und steckte man in Deutschland die Sozialrevolutionäre Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ins Zuchthaus; bei Letzteren wurde sogar eine Einweisung in die Psychiatrie erwogen. Raserei und Zerfall des normalen Lebens kennzeichnet ein Wort von Thomas Mann: »Wie hätte der Künstler. .. nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er. .. so überaus satt hatte.« Nur wenige Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler erfassten demgegenüber den Kern des Geschehens. Zu diesen gehörte der französische Schriftsteller Romain Rolland, der den Ersten Weltkrieg die »größte Katastrophe der Geschichte seit Jahrhunderten« und einen »Zusammenbruch unserer heiligsten Hoffnungen auf die Brüderlichkeit der Menschen« nannte. Zu dem Kampf um eine Werte- und Sinngebung gehörte insbesondere die Auseinandersetzung um Autokratie und Demokratie; sie wurde in den einzelnen Staaten und zwischen diesen ausgefochten. Die Autokratien sollten schließlich auf dem Scherbenhaufen der Geschichte landen, doch auch die Demokratien hatten bei Kriegsende keinen Grund, sich als Sieger zu fühlen. Zu groß waren die Verluste der bürgerlichen politischen Kultur, zu drohend die faschistischen und bolschewistischen Gegenmodelle, die der Krieg mit zunächst unabsehbaren, am Ende katastrophalen Folgen für das 20. Jahrhundert produzierte.Das russische Imperium löst sich aufIm Wettstreit der Ideologien und Systeme verfügten das Zarenreich und Österreich-Ungarn von Beginn an über keine Trümpfe. Russland entwickelte sich bei unfähiger Führung zu einer Autokratie zurück; nicht einmal mittelmäßige Akteure wie der Außenminister Sasonow konnten sich unter Dilettanten behaupten. 1915 verschwand Nikolaus II. als unbedeutender Oberbefehlshaber im militärischen Hauptquartier und damit von der politischen Bühne. In Petrograd praktizierte Kaiserin Alexandra, seine Frau, eine inoffizielle Regentschaft. Während in ihrem Umfeld der abenteuerliche Mönch Grigorij Jefimowitsch Rasputin sein Unwesen trieb, bemühte sich die Duma vergeblich um den Ausbau der konstitutionellen Monarchie. Einzig improvisierte Kriegsindustriekomitees, in denen industrielle Semstwos (Selbstverwaltungsorgane auf Kreis- und Gouvernementsebene) und Städte, ja selbst Arbeiter zusammenwirkten, sorgten für eine dürftige Versorgung des Militärs mit Rüstungsgütern, damit aber auch für eine Verlängerung des jahrelangen Hinschlachtens des Volkes. Die Agonie der Führung bekam gespenstische Züge, da das hungernde und frierende Volk nicht nur defätistisch und kriegsmüde wurde, sondern auch entwurzelt, unrepräsentiert und unorganisiert. Russland wurde unberechenbar und anfällig für Demagogen. In den Städten mit ihren unerträglichen Lebensbedingungen litt das schwache Bürgertum und fanden sich die Millionen neu zugezogener Bauern nicht zurecht. An der Front wurde die vormalige Unterdrückung der Bauern in militarisierter Form fortgesetzt. Die sozialistische Opposition war fern in Sibirien oder im Exil. Das Zarenreich besaß somit keine Perspektive für eine funktionierende Autokratie, geschweige denn für eine konstitutionelle Monarchie oder gar Demokratie. Hieran änderte sich auch nichts, als das durch Streiks erschütterte Russland in der Februarrevolution 1917 praktisch zur Republik wurde. Nach der Abdankung von Nikolaus II. erkannten die Westmächte diese umgehend an und gaben sich der Illusion hin, dass ein demokratisches Russland ein besserer Bündnispartner als das Zarenreich sein würde. Demgegenüber setzten die Mittelmächte auf eine destruktive Russlandpolitik und schleusten mit Lenin Hunderte von Emigranten aus der Schweiz ins Land. Die unfähige bürgerliche »Provisorische Regierung«, die die Macht mit konkurrierenden Sowjets (Räten) teilen musste, war nicht in der Lage, die elementaren Forderungen nach Brot, Frieden und Land für die Bauern zu befriedigen. Der Auflösungsprozess des russischen Imperiums mündete schließlich am 7. November 1917 — nach dem in Russland damals üblichen julianischen Kalender der 26. Oktober — in die die Welt verändernde Oktoberrevolution ein. Ein von Lenin dominierter »Rat der Volkskommissare« führte das bolschewistische Sowjetsystem ein, beendete den Krieg um jeden Preis und propagierte eine neue sozialistische Weltordnung, eine Landrevolution und ein neues Nationalitätenkonzept. Bei alledem steuerte das neue Regime durch schnell einsetzende Bürger- und Interventionskriege in eine Existenzkrise hinein.Der Habsburger Vielvölkerstaat zerfälltAuch die Habsburgermonarchie glitt in eine vergleichbare, wenn auch nicht so drastische Krise. Bis 1917 hatte in Österreich — anders als in Ungarn — die Exekutive das alleinige Sagen, die konstitutionelle Mitbestimmung ruhte, und die Regierung verlor kontinuierlich an Autorität. Der Staat starb schließlich nicht an autokratischen Rückfällen oder fehlenden Demokratisierungen, sondern an dem ungelösten Nationalitätenproblem. Zwar bezeugte die Armee nochmals die erstaunliche Lebenskraft des Vielvölkerstaates, der — anders als es eine schwarze Legende besagt — kein »Völkerkerker« war, sondern auch über Ansätze für eine ausbaufähige multinationale Ordnung einer großen Region Europas verfügte. Die slawischen Bewohner des Habsburgerreiches beteiligten sich am Krieg vielfach in der Hoffnung auf Gleichberechtigung und staatliche Reformen. Die Situation spitzte sich aber zu, als Ministerpräsident Karl Graf von Stürgkh ermordet wurde und als einen Monat später — im November 1916 — die Integrationsfigur des Reiches, der 86-jährige Patriarch Franz Joseph, starb. Sein Nachfolger, Kaiser Karl I., versuchte verzweifelt das Zerbröckeln des Staates abzuwenden. Doch außen- und innenpolitische Kraftanstrengungen wie eine Einberufung des Reichsrats oder eine politische Amnestie griffen nicht mehr. Die wie die Deutschen und Ungarn hungernden Slawen suchten eine bessere Zukunft fortan nicht mehr in der ausgelaugten und reformunfähigen Monarchie, sondern in selbstständigen demokratischen Staaten.Die Demokratien als SiegerAnders als Russland und Österreich waren Großbritannien und Frankreich Demokratien und das Deutsche Reich immerhin eine konstitutionelle Monarchie mit Tradition und Demokratisierungstendenzen. Die innerstaatliche Entwicklung in Zentral- und Westeuropa zeigte auch deutliche Parallelen. Einen vermeintlich schnellen Sieg vor Augen, überließen die Parlamente den Regierungen das Sagen, wobei allenthalben Militärs konkurrierende politische Führungsansprüche anmeldeten. Zumindest eine breite Mitte der Parteien fand bei Überwindung vormaliger Konflikte zu einer Kriegskoalition zusammen, beispielsweise bei der Proklamierung des »Burgfriedens« in Deutschland oder der Union sacrée in Frankreich. Als der Krieg andauerte, kriselten und zerbrachen diese Konsensgruppierungen, meldeten sich die nationalen Kammern mit Kontroll- und Mitbestimmungsansprüchen zurück und wurde auch der Ruf nach einem starken Mann laut. Am Ende errichteten David Lloyd George in Großbritannien und Georges Benjamin Clemenceau in Frankreich legale Kriegsdiktaturen, während in Deutschland die 3. Oberste Heeresleitung diktatorisch handelte, sich die Macht aber wiederholt auch in einer Doppelherrschaft mit dem reformierten Reichstag teilen musste. Im Frieden schließlich sahen sich die Westmächte als Demokratien bestätigt und wurde Deutschland zur Demokratie umgestaltet.Der amerikanische »Kreuzzug für die Demokratie«Diese Konstellation zwischen Entente und Mittelmächten zeigt, dass es zwischen ihnen kaum einen Krieg unter der Losung »Demokratie gegen Autokratie« geben konnte. Wenn Großbritannien und Frankreich dennoch für Freiheit und Demokratie kämpften, dann war dies Teil der überall gesuchten und auch gefundenen Rechtfertigungsstrategien. Politisch brisant wurde die Betonung demokratischer Werte allerdings, als der amerikanische Präsident Woodrow Wilson seinen Neutralitätskurs verließ, der mit darauf beruht hatte, dass er nicht in einen Kampf der »imperialistischen« Mächte Europas, noch dazu an der Seite des autokratischen Zarenreichs, hineingezogen werden wollte. Als die enge Interessengemeinschaft der USA mit der Entente und der U-Boot-Krieg sein Land dann doch in den Krieg hineinzogen, proklamierte Wilson — schon unter dem Eindruck der Februarrevolution in Russland und der dort laut werdenden Losung des Petrograder Sowjets — die berühmte Formel: »The world must be made safe for democracy.« Die USA führten den Krieg als »Kreuzzug für die Demokratie«. Mit seinen »Vierzehn Punkten« vom Januar 1918 versuchte Wilson — wie schon bei seiner Friedensinitiative Ende 1916 — Partner und Feinde auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker im Innern und Äußeren festzulegen. Nach dem Frieden von Brest- Litowsk drang er konkret und schließlich erfolgreich auf einen Regimewechsel in Deutschland und gewann hiermit großen Einfluss auf den Demokratisierungsprozess im Deutschen Reich.Parlamentarisierungsversuche in DeutschlandDie Anpassung des Deutschen Reichs an westlich-demokratische Normen aus eigener Kraft war tiefer gehend als meist angenommen. Entsprechende Fäden spann bis zu seinem Sturz im Juli 1917 Reichskanzler Bethmann Hollweg. Die Bereitschaft auch der Linken zum Burgfrieden honorierte er mit dem Versprechen einer politischen »Neuorientierung« und verbreitete die Parole: »Freie Bahn für alle Tüchtigen.« Das reaktionäre ostelbische Junkertum müsse »gebrochen« werden, alte Schranken sollten fallen. Sein Ziel war ein soziales Volkskaisertum, und auf dem Weg dahin waren Militärs der politischen Kontrolle der Regierung zu unterstellen, galt es, das Dreiklassenwahlrecht in Preußen zu beseitigen, und musste eine Parlamentarisierung des Reichs durchgedrückt werden. Doch gegen die Militärs besaß er kaum eine Chance, und seine beiden politischen Offensiven endeten im Desaster: Sein Friedensvorstoß vom Dezember 1916 leitete über zu der Entscheidung zum von ihm bekämpften U-Boot-Krieg, sein Versuch, im Juli 1917 ein Reformpaket durchzuboxen, führte zu seiner Entlassung. Lange Zeit suchte er mithilfe des Reichstags eine »Phalanx der Vernunft« zu gründen, die seine Pläne eines Ausgleichsfriedens und einer Demokratisierung mittragen sollte. Offen und beharrlich warb er dafür bei Parteien und Reichstag. Da die politische Rechte, die den Kanzler verachtete und hasste, unerreichbar blieb, strebte er eine Mitte-Links-Koalition an. Doch in den entscheidenden Momenten spielten Zentrum und Nationalliberale nicht mit, die immer wieder der Suggestion der 3. Obersten Heeresleitung erlagen, sodass die — viel zu schwache — Bethmann-Hollweg-Koalition nur aus SPD und Linksliberalen bestand. Um flankierende Öffentlichkeitsarbeit bemüht, stieß er an die Grenzen des besser funktionierenden Propagandaapparats der Rechten, wagte sich aber aus Gründen psychologischer Kriegführung auch nicht weit vor. Er wusste, dass in einer zum Zerreißen gespannten militärisch-politischen Situation eine Demontage der Siegfriedensillusion ebenso gefährlich war wie eine Attacke gegen eben jene alten Eliten, die das Heer führten.Die Entlassung des Reichskanzlers Bethmann HollwegSo versuchte sich der Kanzler schließlich im Handstreich aus den Fängen des Militärs zu lösen. Durch Hinweise auf ultimative, den »Burgfrieden« bedrohende Forderungen der Linken sowie auf das Schicksal des Zaren suchte und fand Bethmann Hollweg im Juli 1917 die Rückendeckung des Kaisers für ein Volkskaisertum. Doch hier intervenierte die 3. Oberste Heeresleitung mit einer Rücktrittsdrohung für den Fall, dass der Kanzler nicht entlassen werde. Dieser Akt wirkte als Veto, denn Hindenburg und Ludendorff hatten sich als Retter des Vaterlandes bei Tannenberg den Nimbus von Garanten eines Siegfriedens aufgebaut. Sie nutzten ihre plebiszitäre Machtstellung, um — abgesehen vom Kanzlersturz — die auf den Weg gebrachte Parlamentarisierung zu stornieren. Gleichzeitig bereiteten sie der traditionellen Staatsform des Kaiserreichs als konstitutioneller Monarchie ein Ende; der Kaiser bestimmte fortan nicht mehr mit seinem Kanzler die Richtlinien der Politik. Bei dieser politischen Umwälzung assistierten der keine Intrige scheuenden Obersten Heeresleitung die Parteiführer der Nationalliberalen und des Zentrums, Gustav Stresemann, weil er Annexionist war, und der bekehrte Annexionist Erzberger, weil er den Kanzler als politisch verbraucht einschätzte. Das frühe Scheitern einer Parlamentarisierung Deutschlands aus eigener Kraft, in Szene gesetzt bei Beteiligung prominenter späterer Republikaner, sollte erheblich zur dann folgenden Instabilität der Weimarer Republik beitragen. Bei diesem Prozess war die Rolle des Kaisers unerheblich, denn dieser hatte seinen Kredit bei der Bevölkerung schon verspielt; selbst Konservative lasteten Wilhelm II. das deutsche Führungschaos an. Unfähig, Politiker und Militärs zu koordinieren, verschwand der Monarch spätestens seit 1917 in der politischen Versenkung. Alles entscheidend waren der in der deutschen Gesellschaft und vor allem bei den Militärs grassierende Nationalismus und ein entsprechender Chauvinismus. Besonders in den tonangebenden Klubs und Verbänden wie der Fichtegesellschaft predigte man — vielfach mit theologischem Segen — eine »deutsche Sendung«. In ihr setzte man — harmlos klingend — eine verinnerlichte »Kultur« gegen eine äußerliche »Zivilisation«, »Gemeinschaft« gegen »Gesellschaft«. Man bezog Front gegen die Ideen des Revolutionsjahres 1789, gegen Liberalismus und Rationalismus. Verherrlicht wurden demgegenüber Instinkt und willensstarke Herrenmenschen. Der Trend ging in Richtung eines verhängnisvollen Zusammenschlusses der zeitgenössischen Leitideen von Nationalisten und Sozialisten. Wie Bethmann Hollweg hoffte, ging mit Fortschreiten des Krieges zwar eine gewisse Heilung des nationalen Wahns einher. So verschaffte sich die 1915 gegründete »Deutsche Gesellschaft 1914« eine beträchtliche Anhängerschaft in der Berliner und deutschen Gesellschaft. Doch blieb diese insgesamt zerklüftet, polarisiert in Anhänger eines Ausgleichsfriedens und einer Demokratisierung auf der einen, Annexionisten und Demokratiefeinde auf der anderen Seite.Die 3. Oberste Heeresleitung (OHL) gibt den Kurs anObwohl es auch unter den Militärs Realisten gab, konnte zumal nach der Einsetzung der 3. Obersten Heeresleitung von einer Spaltung der militärischen Führung keine Rede sein. Hier gaben die Dioskuren Hindenburg und Ludendorff als »Siegfriedensapostel« die Richtung vor und verbauten mit der Gründung Polens im Osten und dem U-Boot-Krieg im Westen alle Möglichkeiten zu einem Separatfrieden. Erst spielten sie um die Existenz Deutschlands mit dem U-Boot-Krieg Vabanque, dann setzten sie alles auf die schließlich im Frühjahr 1918 gestartete Westoffensive. Mit dem Rundumschlag vom Juli 1917 schienen sie ihre Führungsposition im Deutschen Reich gesichert zu haben. Doch stand ihnen der Reichstag weiterhin im Wege. Da das Funktionieren des Reichstags, wie etwa das Beispiel seiner Friedensresolution zeigte, als Akklamationsorgan nicht gewährleistet zu sein schien, setzten sie in der Folgezeit auf eine Parteigründung. Die von ihnen aus der Taufe gehobene Deutsche Vaterlandspartei, die rasch zur mitgliederstärksten Partei aufstieg, war jedoch keine herkömmliche Partei, sondern eine auf die NSDAP vorwegverweisende nationale »Bewegung«. Unfähig zwar, ein theoretisches Staatsmodell auch nur zu formulieren, arbeiteten sie gleichwohl erfolgreich an dem Modell eines totalitären, auch völkischen Annexions- und Militärstaates, der das Dritte Reich auch mit seinen Vernichtungsstrategien vorwegnahm. In ihm sollte Hindenburg als mythisch verklärter starker Mann fungieren und, gestützt auf eine Volksbewegung, den »Endsieg« erringen.Der Grundstein der DolchstoßlegendeFaktisch kam es nach dem Sturz Bethmann Hollwegs zu der schon genannten Doppelherrschaft der Militärs mit dem Reichstag, der auch seinerseits seine innenpolitische Position ausbauen konnte, als zunehmend Abgeordnete in die Regierung einrückten und das Parlament auf das Regierungsprogramm Einfluss nahm. Mehr aber diktierte in Vorbereitung des Sieges die Oberste Heeresleitung das Geschehen, bis sie Ende September 1918 die militärische Niederlage Deutschlands eingestehen musste. Jetzt verband sie die Forderung nach umgehenden Waffenstillstandsverhandlungen mit der nach einer Parlamentarisierung Deutschlands, womit sie zugleich den Grundstein zur Dolchstoßlegende legte, die sie schon beim Sturz Bethmann Hollwegs vorbereitet hatte. Diese besagte, dass das zivile Deutschland dem Heer in den Rücken gefallen sei, und die Oberste Heeresleitung setzte auf eine spätere Fortsetzung des Krieges unter »besseren« Bedingungen, womit sie in keinem Fall parlamentarische meinte. Die Parlamentarisierung Deutschlands wurde durch ein entsprechendes Gesetz vom 28. Oktober rasch vollzogen. Damit gewann Deutschland jene Konturen, die es in der Weimarer Republik behalten sollte. Die deutsche Öffentlichkeit nahm aber einer kaiserlichen Regierung, auch wenn sie neuerdings demokratisch war, diesen Reformakt nicht mehr ab. Revolution und Abdankung des Kaisers machten Deutschland am 9. November 1918 zur Republik. Der Parlamentarismus in Deutschland hatte mithin drei Väter: den Reichstag selbst als Hoffnungsträger, Wilson und die Alliierten als fremdbestimmende Macht und die hinterhältige 3. Oberste Heeresleitung.Prof. Dr. Günter WollsteinWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Weltkrieg, Erster: Die soziale Dimension des KriegesGrundlegende Informationen finden Sie unter:Weltkrieg, Erster: Die technische Dimension des KriegesFlucht in den Krieg? Die Außenpolitik des kaiserlichen Deutschland, herausgegeben von Gregor Schöllgen. Darmstadt 1991.Geiss, Imanuel: Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg. Taschenbuchausgabe München 1985.Kielmannsegg, Peter Graf: Deutschland und der Erste Weltkrieg. Stuttgart 21980.
Universal-Lexikon. 2012.